zum Nachwort

Nachfolgend ein kurzer Abschnitt aus den umsichtigen, am Ende ziemlich ratlosen Rückblicken von Weizsäckers auf die Versuche, das religiöse Vakuum zu füllen, das den Siegeszug der NS-Ideologie ermöglichte:

Eine Unterhaltung mit dem Gauführer der schlesischen Ärzteschaft, Dr. Brünig, einem Freunde des Reichsärzteführers Conti, einige Monate vor dem Einfall der Russen in Schlesien geführt, beleuchtet dies noch einmal. Er: Die Professoren haben uns (die NS.-Bewegung) verraten. Ich: Wieso? Er: Rosenberg und Dr. Goebbels haben die Universitätsprofessoren in Halle und in Heidelberg aufgefordert, die Philosophie des Nationalsozialismus zu schreiben, und nichts ist geschehen. Ich: Haben Sie einmal einen Garten besessen und Salat oder Tulpen gepflanzt? Er: Ja. Ich: Wenn Sie nun die Pflänzchen dreimal am Tage eine halbe Stunde anbrüllen: »Wachst, wachst, wachst!« — glauben Sie, dass sie dann schneller wachsen? Er: Keine Antwort.

Es ist sonderbar, aber die Zeit nach dem ersten Weltkrieg steht mit diesen religiösen Hoffnungen und Äusserungen vor mir wie meine Jugend – oder gar Jünglingszeit. Und doch war ich schon dreiunddreissig Jahre alt. Das, was daran misslang, stelle ich mir daher leicht als Jugendphantasie oder Jünglingstraum vor, so, als ob der Misserfolg oder das eigene Versagen damit erklärt und entschuldigt sei. Das kann nicht ganz stimmen, da ich die Grundrichtung auch heute für richtig halte. Trotzdem sieht das Ganze jetzt doch ziemlich anders aus. Wenn ich die in meiner Person liegenden Mängel übergehe, weil ich darüber kein zulängliches eigenes Urteil habe, so ist die nächstliegende Deutung die, dass es sich um eine Aufgabe handelt, die ein oder einige Individuen überhaupt nicht allein bewältigen können; noch mehr aber, dass es sich um einen Prozess handelt, der nicht in Jahren und nicht in einer Generation, sondern wahrscheinlich nur in einer Epoche von einigen Jahrhunderten würde ablaufen können. Die Breite und die Tiefe der geistigen Wandlungen, so sagte ich mir immer mehr, ist in der Jugend unendlich unterschätzt worden, denn diese Wandlung muss auf jedem Gebiet, auch dem der Wissenschaften, in treuer Einzelarbeit Schritt für Schritt erobert werden.
Viktor von Weizsäcker im Rückblick auf die Jahre 1918-1933

In seinen tastenden Versuchen, das eigene Versagen in der Zwischenkriegszeit in zutreffende Worte zu fassen, beschreibt von Weizsäcker anschaulich seine Begegnungen und seine wiederholten Ansätze zu einem kritischen Austausch mit den Theologen des “dialektischen” Aufbruchs – und die Enttäuschungen, in die sie mündeten. Daraus die abschliessende Quintessenz:

“Was hier untersucht wird, ist die Erfolglosigkeit des religiösen Aufbruches, der uns, die vom Weltkrieg Übriggebliebenen, zuerst erschüttert, dann beschäftigt und schliesslich enttäuscht hat. Vor eigenem und fremdem Urteil stehen wir als Geschlagene und als Versager da; wenn man etwas Positives in unserem Bemühen finden will, so müsste man es woanders suchen. Die Frage liegt nahe, ob nicht die «Abwendung von diesen Formen der Religiosität einer Ehrlichkeit und einer tieferen Erkenntnis, einem richtigeren Gefühl zu danken war. Wir spürten, dass der Kampf gegen die frei schwebende, unverbindliche Geistigkeit selbst noch auf solche Weise geführt war, – dass wir gerade das taten, was wir bekämpften; dass wir ein sogenanntes geistiges Leben führten, indem wir es abschworen, also mehr geistreich als geistlich waren. So wandte sich jeder zunächst seinem Beruf wieder zu.”Viktor von Weizsäcker über Karl Barth und über die Bibel

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