zu den Thesen 130 und 131
Auf wenigen Druckseiten zeichnet Karl Löwith nach, wie Karl Marx sein weit gespanntes, anschauliches Geschichtsbild entwirft, und macht verständlich, weshalb es seine faszinierende, mitreissende Macht entfalten konnte (und warum es die biblische Verheissung in die Forderung nach einem innerweltlich zu erringenden Heil umformen musste):
Karl Löwith zum Programm Karl Marx’
zur Kritik Löwiths an der evangelischen Theologie:
Theologische Literaturzeitschrift 2024-4
zu These 134
Beispielhaft für für viele andere tut das der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder. Im Kontrast zu den russischen Propagandisten entwirft er ein Bild der Geschichte, in dem der Ukraine eine geradezu messianische Stellung zufällt. Er schärft die Gegensätze zwischen der westlich freiheitlichen und der russisch reaktionären Zivilisation in einer Weise, die an die manichäischen Antithesen der Gnosis erinnert, und definiert seinerseits den Faschismus so, dass er sich in Russland lokalisieren lässt:
“Faschismus ist die Lüge, dass der von einem Führer ausgewählte Feind der Feind aller sein muss. Politik beeginnt dann mit Emotionen und Lügen. Frieden wird undenkbar, weil die Feindseligkeit des Auslands für die Kontrolle des eigenen Landes notwendig ist.”
Demgegenüber bietet Snyder seine eigene Erzählung von einem Heil, das sich zwar nicht erringen, aber doch erstreben lasse, wo die demokratischen Institutionen den Menschen die Zeit verschaffen, so dass sie zu Bürgern werden können und mit ihren Tugenden wiederum die demokratischen Institutionen stärken. Das ist einmal mehr das Gedankenmuster einer Dialektik, die aus sich selber ein Fortschreiten zum Guten verspricht. Diese Sicht fordert auch ein hartes “solus”, wie das reformatorische Bekenntnis zur Gerechtigkeit Gottes:
“Nur eine gemeinsame, von der Öffentlichkeit getragene Politik kann Bürger mit dem Selbstvertrauen von Individuen hervorbringen.”
Also: “Nur” – allein eine heilsame Politik kann Bürger kreieren…
Dabei bleibt ungesagt, wer diese Öffentlichkeit und die von ihr getragene Politik auf den Weg bringen und ihr Gestalt geben soll: Das Subjekt des Handelns bleibt einmal mehr (wie in Immanuel Kants Programmschrift zur Aufklärung) anonym.
(Vgl. dazu Hamanns Kritik von Kants Aufklärungsschrift und ihre Vernebelung der politischen Macht).
Mit überscharfer Kritik gesagt: Snyder missbraucht den Verteidigungskrieg, zu dem die Ukraine gezwungen ist, um sein eigenes Geschichtsbild zu propagieren und sich mit seiner Intellektualität an die Spitze der westlich freien Welt zu stellen. Zu diesem Zweck muss er die Ukraine idealisieren und dispensiert sich von der Aufgabe, umsichtig zu beschreiben, welche Rolle der Nationalheld Stepan Bandera (und seine Verstrickungen in faschistische Verbrechen) in der gegenwärtigen ukrainischen Erinnerungskultur spielt.
aus Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit
https://www.youtube.com/watch?v=iI4oyPZbPmM
https://www.youtube.com/watch?v=bJczLlwp-d8
https://www.youtube.com/watch?v=SuBNkA3-Ddw
zu These 135
Zwei Texte zur ideologischen Kriegserklärung des Patriarchen von Moskau seit 1999
Kyrill lässt in seiner Kritik am westlichen Individualismus unbedacht, dass sie auf eine erschreckende Weise übereinstimmt mit der dezidiert atheistischen, durch die sich die sowjetischen Machthaber berechtigt sahen, die Menschen bis in ihr Innerstes auszulöschen.
Gary Saul Morson, Stalins Archive
zu den Thesen 142 bis 158
Auch Bernd Janowskys neuste akademisch-theologische Publikaion zu den biblischen Vorgaben für den Schöpfungsglauben lässt den präzisen Wortlaut der Schlangenlüge unbedacht. Stattdessen versucht sie Genesis 3 durchsichtig zu machen als eine Annäherung an die Faktizität des Bösen und weist explizit die Deutung zurück, die Paulus und ihm nachfolgend die kirchliche Kunst und Liturgie diesem Bibelwort gegeben haben.
aus Bernd Janowsky, Biblischer Schöpfungsglaube.
zur These 177
Der Theologe Tim Howles erinnert daran, dass das ökologische Verständnis der Erde als eines fliessenden, inderdependenten Systems (“Gaia”) gegen den erklärten Willen ihrer Vertreter dazu führen kann, dass sich erneut Manager an die Aufgabe machen, dieses System ihrer Herrschaft zu unterwefen. Es ist kein Zufall, dass ein Wegbereter dieses holistischen Systemdenkers von der Erölfrma Shell finanziert wurde.
Tim Howles, kritische Anfragen an Gaia
zur These 215
Natürlich gelten der Vernunft solche Werke nichts, „dass da einer dem andren in Liebe dient, dass er also einen Irrenden lehrt, einen Niedergeschlagenen tröstet, einen Schwachen aufrichtet, einem Nächsten in irgendeiner Weise Hilfe bringt, eines anderen bäurische Sitten und seine Ungeschicklichkeit erträgt, in der Kirche und im öffentlichen Gemeinwesen mit Gleichmut die Unbequemlichkeiten, die Mühen, die Undankbarkeit der Menschen und ihre Verachtung hinnimmt, mit einer mürrischen Ehefrau, mit einer unleidlichen Familie etc. geduldig ist…“
(Martin Luther, Weimarer Ausgabe Bd. 40 II, S. 70, Grosser Galaterbriefkommentar, 1531)
zur These 218
Beispielhaft für den erfolgreichen Appell an den Willen zur persönlichen Lebenserfüllung und die Ermächtigung zum eigenständigen Handeln ist das Programm des us-amerikanischen “Gemeindegründers” Rick Warren, das er in dem meistverkauften theologischen Buch des 20. Jahrunderts entfaltet hat: Rick Warren, Leben mit einer Vision.
Bezeichnenderweise übergeht Warren stillschweigend die neutestamentlichen Aussagen, die herausstellen, dass den Aposteln ein Zeugendienst anvertraut ist, den niemand ersetzen kann und soll (Apostelgeschichte 10,41.42). Stattdessen schmeichelt er jedem einzelnen Menschern, dass er mit der Schatzkiste seiner persönlichen Erfahrungen Menschen zum Glauben führen könne (und solle).
zu den Thesen 242 und 243
Dazu präzisierend der Phillosoph Rémy Brague:
“Desgleichen hat in der Religion der Glaube nur dort Auswirkungen, wo er Glaube bleibt und nicht zur Berechnung wird. Die Zivilisation des christlichen Europa wurde von Menschen errichtet, deren Ziel niemals die Etablierung einer »christlichen« Zivilisation war, sondern die konsequent im Glauben an Christus lebten. Sie waren Christen — nicht »Christianisten«. Wir verdanken diese Zivilisation Menschen, die an Christus glaubten und nicht an das Christentum. Ein gutes Beispiel dafür ist Gregor der Grosse, dessen Reform die Grundlagen des christlichen Mittelalters bildete: Er glaubte an das nahe Ende der Welt; und dieses Ende musste demgemäss — nach seiner Vorstellung – jeder »christlichen Zivilisation« den Raum zu ihrer Entfaltung entziehen. Was er entwarf — und was schliesslich ein gutes Jahrtausend währen sollte —, war für ihn nur eine Marschordnung, ein Verfahren, Ordnung in dem Haus zu machen, das man verlassen musste.”
Rémy Brague, Europa. Eine exzentrische Identität